Entwürdigte Würde

Zuwendung im Alter(c) thomasfuer - photocase.deDer Grund für diesen besonderen Schutz liegt darin, dass die Menschenwürde nicht nur einen absoluten Grund hat, sondern auch einen sozialen und einen individuellen Aspekt aufweist. Der soziale Aspekt meint die Anerkennung der Menschenwürde des Nächsten, während sich die individuelle Seite auf die Überzeugung von der eigenen Menschenwürde bezieht. Dieses soziale und individuelle Würdebewusstsein ist beeinträchtigbar, wodurch sich die Notwendigkeit des Schutzes der Menschenwürde ergibt. Dabei reflektiert der Schutz der Menschenwürde eine „Grenze der Heiligkeit“. Das Heilige meint in seiner ursprünglichen Bedeutung das „Besondere“. Der Schutz der Menschenwürde bedeutet also den Appell, niemandem seine Besonderheit als Mensch und damit der Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft abzusprechen. Der Philosoph Peter Schaber sieht daher auch treffend den Anspruch der Menschenwürde darin, nicht erniedrigt zu werden.

Wichtig ist der Schutz dieser Heiligkeit des Menschen aus zwei Gründen. Einerseits stellt sich eine Gesellschaft, die die Würde jedes einzelnen seiner Mitglieder nicht als heilig achtet, selbst infrage. Denn wer die Würde des Nächsten missachtet, wird gedankliche Schwierigkeiten damit haben, seine eigene Menschenwürde zu achten. Es müssen nun künstliche Abgrenzungen gefunden werden, weshalb der Mitmensch doch in Wahrheit kein Mitmensch ist. Und ist die Willkürlichkeit dieser Grenze einmal entdeckt, ist es nicht mehr einfach, plausibel zu begründen, warum der Menschenwürdeentzug, der für den Nächsten gegolten hat, nicht auch für sich selbst gelten soll. Damit zeigt sich, dass die Aberkennung der Würde des Nächsten fundamental auf den Demütiger zurückschlägt. Eine Gesellschaft, die es zulässt, dass diese letzte heilige Grenze der Mitmenschlichkeit überschritten wird, stellt zudem einen Nährboden für ein Klima der Respektlosigkeit dar. Übergriffe, d.h. Grenzverletzungen, werden zur Normalität, da die Grenzen verfallen, unbekannt geworden sind. Schließlich zerfällt die Gesellschaft als Gemeinschaft. Das deutsche Grundgesetz formuliert daher mit gutem Grund die Menschenwürde als das Fundament der Gemeinschaft.

Dabei zeigt sich der Umgang einer Gesellschaft mit der Menschenwürde dort, wo Menschen schutzlos werden und nicht mehr aus eigener Kraft ihre Mitgliedschaft in der Menschengemeinschaft verteidigen können. Dort, wo sie auf Unterstützung ihrer Mitmenschen hoffen müssen, allein deshalb, weil sie Mitmensch sind. An dieser Stelle haben wir in Deutschland durchaus Nachholbedarf. Wir sind eines der reichsten Länder dieser Erde, aber wir lassen es zu, dass Alte und Kranke in Pflegeheimen mit einer viel zu dünnen Personaldecke notdürftigst versorgt werden. Pflegern, die diesen heiligen Dienst am schutzlosen Mitmenschen versehen, bürden wir viel Arbeit bei karger Entlohnung auf. Der Ausbau unserer Palliativstationen, die physische Schmerzen wenigstens lindern könnten, bleibt zu wünschen übrig. Wir haben eine Situation geschaffen, die ein SPIEGEL-Leser in einem Leserbrief wie folgt auf den Punkt brachte: „lieber rechtzeitiger Abgang als Beisetzung in einem Altersheim“. – So also gehen wir mit der Menschenwürde unserer schwächsten Mitglieder um und haben dann die Stirn, ihnen den Suizid als Ausdruck von Menschenwürde zu verkaufen.

Damit wären wir beim zweiten Grund für den Schutz der Menschenwürde. Der individuelle Aspekt verweist auf die Überzeugung von der eigenen Würde. Diese ist (wie der Philosoph Ralf Stoecker feststellt) auch „keine notwendige Bedingung für Menschenwürde, sondern nur ein Zeichen dafür, dass man verstanden hat, worin die eigene Menschenwürde liegt“. Eine Verletzung dieses individuellen Aspekts der Menschenwürde bedeutet (mit Worten des Philosophen Robert Spaemann), dass dem Einzelnen „die Möglichkeit der Würdedarstellung“ genommen wird.

Diese Verletzung ist besonders dramatisch. Denn wenn jemand darin eingeschränkt wird, sich in seiner Menschenwürde darzustellen, der könnte leicht die Überzeugung von der eigenen Menschenwürde verlieren. Wem dieses Wissen um die eigene Werthaftigkeit abhanden gekommen ist, der ist in Gefahr, an der Seele zu erkranken. Der gedankliche Schritt von der Überzeugung der eigenen Unwürdigkeit, d.h. auch der Nicht-mehr-Menschlichkeit, zur Beendigung eines ja schon als nicht mehr menschlich anerkannten Lebens ist dann nicht mehr groß. Warum sollte man auch etwas schützen, dessen Wesenskern verlorengegangen ist?

Wer zu dieser Überzeugung gelangt ist, der verdient nicht Verurteilung oder Verächtlichmachung seiner Situation und seiner Gedanken. Wenn wir, die Umstehenden, es tatsächlich zugelassen haben, dass ein Mitmensch sich selbst nicht mehr als achtbares Mitglied der Menschengemeinschaft anerkennen kann, müssen wir uns kritisch fragen, wie es so weit kommen konnte. Spätestens jetzt müssen wir diesem buchstäblich am Boden zerstörten Mitmenschen die helfende Hand reichen, ihn wieder aufrichten und mit ihm zusammen daran arbeiten, dass das Bewusstsein seiner eigenen Würde wiederhergestellt wird. Es wäre zynisch und bösartig, einem so am Boden liegenden Menschen die helfende Hand  zu verweigern und ihm stattdessen das Mordwerkzeug zu reichen, mit dessen Hilfe er endgültig und auch biologisch die Menschengemeinschaft verlassen kann. Eine Beihilfe zum Suizid ist Ausdruck einer verächtlichen Haltung gegenüber dem einzelnen Menschen, der Menschheit als Ganzes und damit letztlich auch gegenüber sich selbst.

Stoecker mahnt daher treffend: „Wenn Menschen nicht mehr dazu in der Lage sind, sich um ihre Würde zu kümmern (wenn sie keine Selbstachtung mehr haben können), dann ist ihre Umgebung nicht von dem Gebot befreit, sie menschenwürdig zu behandeln.“ Doch statt diesem Appell der Mitmenschlichkeit zu folgen, schlägt unsere Bundesjustizministerin a. D. vor, wir sollten lieber „Angebote bereithalten“, damit diese verzweifelten Menschen die Freiheit haben, aus dem Leben zu scheiden.

Freiheit gegen das Leben?

Diese Freiheit stellt bei der Debatte um den Suizid einen gewichtigen Punkt dar. Aber gibt es diese Freiheit zum Freitod? Die Philosophie der Stoa sah im Suizid ein wesentliches Element der menschlichen Freiheit, da durch den Suizid jederzeit ein als unerfreulich oder erniedrigend befundenes Leben beendet werden könne. Dagegen bezeichnet der Philosoph Ludwig Wittgenstein den Suizid als Selbstüberrumpelung, also eine gewaltsame Überwindung des eigenen Lebenswillens. Eine Selbstüberrumpelung kann aber nun nicht als Ausdruck von Freiheit verstanden werden. Die empirischen Daten zum Suizid, die uns vorliegen, deuten eher darauf hin, dass Wittgenstein mit seiner Vermutung Recht hatte. Nach Durchführung zahlreicher Untersuchungen in Europa, den USA, Australien und Asien stellte die Professorin für Psychiatrie Kay Redfield Jamison fest, dass bei „90 – 95 Prozent der Menschen, die sich das Leben nahmen, eine diagnostizierbare psychische Krankheit vorlag“. Stoecker fasst diesen Befund wie folgt zusammen: „Unabhängig von den Lebensumständen und erst recht unabhängig von den individuellen Vorstellungen scheint niemand ernsthaft seinem Leben ein Ende zu setzen, es sei denn, er oder sie ist außerdem psychisch krank.“ Wir lernen also, dass es mit der Freiheit im Bezug zum Suizid nicht weit her ist. In den allermeisten Fällen sind die Betroffenen in ihrer Freiheit durch psychische Leiden eingeschränkt.

Doch auch grundsätzlich lässt sich der Suizid nicht als Ausdruck der menschlichen Freiheit verstehen. Wenn wir uns überlegen, was der Grund ist, weswegen wir Freiheit als Wert schützen, lohnt ein Blick auf die grundlegenden Bedingungen unseres Seins. Der Biologe Humberto Maturana konnte nachweisen, dass bis hin zu einfachsten Einzellern die autonome Selbstorganisation ein grundlegendes Prinzip unseres Lebens darstellt. Hindern wir Organismen dauerhaft daran, kollabieren sie. Autonomie ist also lebenswichtig.

Wenn wir diese Autonomie als das ansehen, was wir mit „Freiheit“ meinen, dann würde das bedeuten, dass Freiheit a) Leben erst ermöglicht und b) ihre Begründung im Leben selbst findet. Leben und Freiheit können dann nicht mehr unabhängig voneinander gesehen werden. Leben und Freiheit sind somit gleichzeitig aus dem Ei gesprungen. Die Rechtfertigung, Freiheit als ethischen Wert zu schützen, wäre also der Schutz des Lebens selbst. Damit ist eine Argumentation, die sich gegen das Leben richtet und sich dabei auf Freiheit als Wert beruft, unzulässig.

Der Suizid hat also insgesamt recht wenig mit Freiheit zu tun oder nur insoweit, als sie gerade hier am wenigsten vorhanden ist.

Ehrlichkeit ist angezeigt

Wenn es also bei der Debatte um den Suizid nicht um Menschenwürde und Freiheit geht, worum geht es dann? Vermutlich wollen wir mit der Rede vom „frei verantworteten Suizid“ uns von unserer Verantwortung freistellen, effektiv und nachhaltig für die Achtung der Menschenwürde in unserer Gesellschaft zu sorgen. Wir alle wissen, dass Pflege und Palliativmedizin teuer sind, und es sieht so aus, als würden die relativen Kosten für den Einzelnen in der Zukunft durch einen immer größer werdenden Anteil an Senioren in unserer Gesellschaft steigen. Wie bequem wäre es da doch, wenn wir Angebote für ein sozialverträgliches Frühableben organisierten. Gleichzeitig wird der Druck auf Alte und Kranke erhöht, da durch die Behauptung einer Freiheit zum Suizid (wie Stoecker treffend feststellt) eine mögliche Pflicht zum Suizid immer auch mitgedacht ist. Freiheit und Pflicht sind nicht unabhängig voneinander zu denken. Und durch die scheinbare Normalisierung des Suizids durch organisierte Suizidbeihilfe wird die Alltäglichkeit dieser Pflicht den Betroffenen unübersehbar vor Augen gestellt. Es geht also ums Geld. Mal wieder. Wir sollten so ehrlich sein, dazu zu stehen – anstatt schöne Sonntagsreden von Würde und Freiheit zu halten.

Fazit

Suizid ist also nicht Ausdruck von Freiheit und Menschenwürde, sondern überschreitet die Grenzen der Freiheit und ist Ausdruck eines fundamentalen Zweifels an der eigenen Menschenwürde. Ein Land, das die Menschenwürde als Fundament seiner Verfassung verankert hat, darf Suizidbeihilfe daher nicht als etwas Normales tolerieren. Entsprechend müsste der geplante § 217 StGB alle Formen der zumindest organisierten Suizidbeihilfe unter Strafe stellen. Wir sollten uns bewusst machen, dass Ethik meist leider nicht kostenlos ist. Ja, wir haben in unserer Gesellschaft mit besonderen demografischen Herausforderungen zu tun. Aber wir sollten hier nicht die wirtschaftlich günstigste, aber ethisch ungeheuer-
lichste Lösung wählen. Wir sollten uns bewusst machen, dass jedem von uns Menschenwürde zukommt. An diese Würde sollten wir uns gegenseitig stets erinnern. Und diejenigen unter uns, die an ihrer Würde zweifeln, sollten wir unterstützen. Durch seelischen Beistand, durch ausreichende physische Versorgung und durch Integration in die menschliche Gemeinschaft – so mühsam das im Einzelfall auch immer sein mag. Das stellt uns insbesondere im Fall von schwerstkranken und sterbenden Menschen vor große Herausforderungen. Es ist weniger aufwendig, die tödliche Kapsel mit einem Glas Wasser auf den Nachtisch zu legen, als eine kompetente und fürsorgliche palliative Betreuung zu organisieren, den Mitmenschen bis zum Schluss als wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu integrieren und ihm die seelsorgerliche Begleitung zukommen zu lassen, die er in dieser schwierigen Situation bedarf.

Das ist mühsam und auch teuer. Aber alles andere stellt einen Bruch der fundamentalen ethischen Grundsätze unserer Gemeinschaft dar.

Wir sind Menschen. Lasst uns diesen vornehmen Status mit Würde ausfüllen
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