Wenn der Putz bröckelt


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Schillernde Schalen

Mancher flieht vor sich selber in die Imagepflege. Wer sich selbst nicht ertragen kann, konzentriert sich bald darauf, sich anderen erträglicher zu präsentieren, interessanter, geheimnisvoller, lebensfroher. Irgendwann kann es passieren, dass man die Rollen besser kennt als sich selbst.

Der norwegische Schriftsteller Henrik Ibsen hat in seinem Theaterstück „Peer Gynt“ mit dem gleichnamigen Helden ein Denkmal für alle gesetzt, die sich auf der Suche nach dem perfekten Image selbst verloren haben. Er, der Hochstapler, der sein ganzes Leben lang nur Rollen gespielt hat, schält in einer berühmt gewordenen Szene langsam eine Zwiebel und sinnt dabei  noch inmal über die verschiedenen Rollen, die er in seinem Leben gespielt hat. Hinter all seinen Fassaden sucht er immer hektischer nach dem Kern seiner Persönlichkeit. Doch als er auch die letzte Schale der Zwiebel wegreißt, muss er verzweifelt feststellen: „Das hört ja nicht auf! Immer Schicht noch um Schicht! / Kommt denn der Kern nun nicht endlich ans Licht?! / Bis zum innersten Innern, – da schau‘ mir einer! – /  Bloß Häute, – nur immer kleiner und kleiner.“ Nur Schalen, kein Kern. Er hat sich selbst verloren.  

Die meisten Menschen wissen aber nur zu gut, was sich hinter allen Schalen verbirgt, die sie um sich herum aufgebaut haben. Nicht selten schlummern dort Dinge, die andere lieber nicht sehen sollten, die ihnen nicht gefallen würden. Bis der Putz bröckelt, die Maske heruntergerissen wird. Es sind unangenehme Momente, offene Wunden, die schnell wieder bedeckt werden. Das Innenleben einiger Menschen jedoch wird für alle sichtbar aufgedeckt. Verstecken nützt dann nichts. Alle erschaudern, wenn das Doppelleben einer prominenten oder privat bekannten Person auffliegt – und mancher freut sich insgeheim, dass seine eigene Hülle noch nicht so viele sichtbare Risse hat.

Und so bleiben wir in unserer schmerzlichen Einsamkeit, unserem Krampf und der beständigen Anstrengung um unsere Außenschicht, in unserem immerwährenden Fragen, wer wir denn eigentlich sind. Wenn die anderen wüssten…

Der Schmerz der Ehrlichkeit

Es gibt einen Ausweg aus dem selbstgebauten Gefängnis: Echt sein! Aber was würde passieren, wenn jemand sich entscheiden würde, radikal unverstellt zu leben? Ab heute gebe ich mich so, wie ich wirklich bin. Ich sage, was ich denke, ich verhalte mich so, wie ich mich fühle. Ich konfrontiere meine Mitmenschen auch mit meinen dunklen Seiten, erzähle allen von meinen Problemen. Ich passe mich nicht an, ordne mich nicht dem Gruppendruck unter, lasse mich nicht verbiegen, nur um dazuzugehören. Notfalls gehe ich alleine meinen Weg, wenn die anderen mit meiner Art nicht klarkommen. Ein ehrbares Anliegen. Aber nicht immer sind die Motive und Folgen ebenso ehrbar. Schnell wird aus der sogenannten Echtheit ein Freibrief für Egoismus und fehlende Rücksichtnahme, eine Entschuldigung für das Verletzen von ungeliebten Mitmenschen. Wenn ich mich meinem Gegenüber mit meiner Echtheit aufdränge, ihn in große Verlegenheit bringe oder verletzte, dann wird Ehrlichkeit zur Farce. Es mag sogar sein, dass schonungslose Aufrichtigkeit bewusst als Markenzeichen gepflegt wird und sich damit völlig ad absurdum führt.

Völlige Transparenz kann nicht nur andere verletzen, sondern macht auch uns verletzlich. In einer Welt, in der die meisten Menschen ihren Vorteil suchen, auch auf Kosten des Nächsten, werden zugegebene Schwächen schnell gnadenlos ausgenutzt und ausgeschlachtet. Solange in einer Gesellschaft nicht die Mehrheit ebenso aufrichtig lebt, kann totale Transparenz uns das Genick brechen. Denn das muss man auch sehen: Fassaden bieten Schutz vor Verletzungen und Vorurteilen. Die biblische Geschichte vom Sündenfall des Menschen zeigt dies auf sehr anschauliche Weise: Sobald sie ihre Freiheit benutzt haben, sich über Gottes Weisung hinwegzusetzen, stellen die ersten Menschen fest, dass sie nackt und verletzlich sind. Sie bedecken sich voreinander mit geflochtenen Blätterschürzen, verbergen sich vor Gott. Ihr Schöpfer tadelt sie nicht dafür, im Gegenteil. Nachdem er sie auf das harte Leben in einer von Gott abgefallenen Welt vorbereitet hat, nimmt er ihnen die Feigenblätter ab und kleidet sie neu mit Kleidung aus Fell ein. (Nachzulesen in 1. Mose 3,6.8.11.21.) Er zeigt damit: In einer gefallenen Schöpfung braucht ihr den Schutz voreinander. Sich für Dinge zu schämen, sie zu verbergen, ist völlig in Ordnung.

Zur Oberflächlichkeit verdammt

Menschen nutzen Schwächen aus, darum muss man sie nicht vor sich hertragen wie Banner, nur um der Echtheit willen. Wir müssen uns bewusst machen: Auch wenn wir unsere Probleme und Fehler nach außen kehren, werden unsere Mitmenschen uns nicht so sehen, wie wir sind. Unsere Fehler sind nicht echter als unsere Stärken. Warum sollte ich z.B. im Vorstellungsgespräch sofort damit herausplatzen, dass ich mich leicht von meinen Aufgaben ablenken lasse? Der Personalchef würde mich dadurch nicht realistischer einschätzen können, als wenn ich solche Informationen erst später auf Nachfrage preisgebe. Authentizität ist mehr, als nur zu seinen Fehlern zu stehen. Man kann sogar seine Schwächen als Fassade nach außen tragen, um eine Wirkung zu erzielen.

Selbst wenn wir uns überhaupt keine Gedanken um unsere Außenwirkung machen – wir haben sie. Niemand kennt seinen Nächsten völlig, sondern fügt Handlungen, Aussagen und optische Eindrücke zu einem Bild zusammen. Es wird angereichert durch Stereotype und Erfahrungen, die man schon mit ähnlichen Menschen oder Situationen gemacht hat. Besonders Personen, denen man zum ersten Mal begegnet, werden auf diese Weise eingeschätzt und verortet. Ja, wir könnten uns nicht zurechtfinden ohne solche „Vorurteile“. Es sind im Grunde genommen unfreiwillige, aber notwendige Fassaden, denn irgendein Aspekt der Persönlichkeit wird immer nach außen gekehrt und sichtbar sein. Erst, wenn wir uns nur von dem ersten Eindruck oder unserem oberflächlichen Urteil leiten lassen, werden wir unserem Gegenüber nicht gerecht. Jeder sollte die Chance von uns erhalten, sich als jemand anderes zu entpuppen oder sich uns differenzierter darzustellen, als wir zunächst denken. Wenn wir unser Verhalten gegenüber der betreffenden Person allein von seiner Oberfläche abhängig machen, werden unsere Beziehungen oberflächlich.

Wir können aber nicht umgekehrt erwarten, dass sich alle unsere Mitmenschen so viel Mühe geben, uns wirklich kennenzulernen. Insofern ist ein gelegentlicher Gedanke an die Wirkung des eigenen Auftretens in bestimmten Situationen einer ehrlichen Beziehung nicht abträglich, im Gegenteil. Warum sollte das Erste, was mein Gesprächspartner von mir mitbekommt, mein ästhetisches Missfallen über seine schief sitzende Brille sein? Wäre dann nicht schon jede Möglichkeit eines näheren Kennenlernens unterbrochen? Trotzdem: Etwas Unbekümmertheit und  weniger berechnendes Kalkül in den vielen Castingsituationen des Lebens könnte vieles entspannter und krampfloser machen, unsere Beziehungen, auch die beruflichen, könnten ehrlicher und tiefgründiger sein. Das Urteil unserer Nächsten über uns ist ja ohnehin kaum zu kontrollieren.

Aber auch, wenn wir Menschen, die uns nahestehen, dicht an unser Inneres heranlassen können, wenn wir es schaffen, ein Doppelleben zu vermeiden und so transparent wie möglich zu leben – niemand wird uns jemals bis in unser tiefstes Inneres verstehen können. Im größten Kummer, in der tiefsten Einsamkeit, in der höchsten Freude bleiben wir alleine. Ein altes Sprichwort, das uns in der Bibel überliefert ist, sagt treffend: „Das Herz allein kennt sein Leid, und auch in seine Freude kann sich kein Fremder mengen.“ (Sprüche 14,10). Im tiefsten Grunde, in unserem Wesenskern, bleiben wir isoliert und sind auf uns allein gestellt. Eine traurige Erkenntnis. Wer kann hinter diese unfreiwilligen Mauern blicken oder gar zu uns in unsere Einsamkeit kommen?

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