Wenn der Putz bröckelt

Der Kandidat ist voller Energie. Gleich geht es auf die Bühne. Noch einen letzten Kommentar in die Kamera: „Ich hab auf jeden Fall das Zeug dazu, das zu schaffen. Ich hab so viele Fans, die geben mir Energie! Die Leute lieben meine Musik!“ Er klingt wie einer der ganz Großen. Und er nimmt den Mund ganz schön voll für jemanden, der gleich einen kurzen Auftritt vor einem Millionenpublikum haben wird. Vielleicht ein bisschen weniger hochstapeln, etwas bescheidener bleiben? Dabei tut er nur das, was man ihm seit Kindesbeinen beizubringen versucht: sich präsentieren! Der erste Eindruck zählt – doch auch der zweite und der hundertste. In unserer Gesellschaft wird das Image als hohes Gut gehandelt. Wenn Fassaden jedoch zum Wesentlichen werden und sogar das Privatleben bestimmen, liegt vieles im Argen. Einige Überlegungen zum täglichen Maskenball.


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Wer es im Leben zu etwas bringen will, muss Selbstdarsteller sein. Unzählige Castingshows vermitteln fast täglich dieses einfache Erfolgsrezept. Langweilige Durchschnittsbürger sind hier nicht gefragt. Die Masse will mitreißende Bewerber sehen, etwas verrückt, mit einer bewegenden Geschichte und völlig von sich selbst überzeugt. Gut singen können viele. Und nicht wenige sehen dabei auch gut aus. Darum muss man sich im harten Wettbewerb mit zusätzlichen Attributen schmücken. Ob man diese tatsächlich hat, ist nicht immer entscheidend. Gute Kandidaten wissen, mit welchen Geschichten sie die Herzen der Zuschauer erweichen können. Und wer ein Händchen für das Showbusiness hat, schafft es sogar, authentisch ehrlich zu wirken.

Die Jury macht vor, worauf es ankommt beim Beurteilen, und unzählige Zuschauer lernen begierig, wie wichtig es ist, sich richtig zu verkaufen. Dabei werden sie selbst zu gnadenlosen Scharfrichtern. Es gewinnt der, der diese Millionenjury am stärksten beeindrucken kann. Man will Kandidaten sehen, die anders sind als man selbst – selbstsicherer, talentierter, interessanter. Normal kann jeder. Ein Teenagerproblem? Castings finden überall statt – nicht nur im Fernsehen. Lehrer, Professoren, potentielle Arbeitgeber und Kommilitonen müssen beeindruckt werden, will man es zu etwas bringen. Viele von uns Studierenden mussten schon anstrengende Vorstellungsgespräche in WGs über sich ergehen lassen. Und wir selbst vergeben ständig Noten. Spätestens, wenn man in der Schule das Führen von Bewerbungsgesprächen trainiert, erfährt man die selektierende Funktion der Selbstdarstellung. Kompetenzen und angenehme Charaktereigenschaften sind wichtig, aber mindestens ebenso bedeutsam ist, dass man sie angemessen in Szene setzt. Zur Not reicht es auch, nur kompetent oder freundlich zu wirken.

Das tägliche Theater

Das Prinzip ist natürlich schon lange bekannt. Schüler entwickeln schnell ein Gespür dafür, was der Lehrer hören und sehen möchte, heucheln Interesse und Wissen oder verbergen ihre Unkenntnis in einem komplexen Wortschwall. Der Erfolg gibt den besten dieser Schwätzer Recht. An der Uni wird diese elementare Überlebenskompetenz als „Unibluff“ weiter ausgebaut: Vorbereitende Texte werden nur flüchtig überflogen, um dann, angereichert durch hochtrabende Formulierungen, einen belesenen und wissenden Eindruck zu machen. Manch eine Hausarbeit mit beeindruckendem Literaturverzeichnis könnte nicht der geringsten Belastungsprobe standhalten, weil sie eben nur dieses will: beeindrucken, tiefschürfende Recherchen vortäuschen und wissenschaftlich klingen. Die akademische Welt macht es uns vor. Nach einigen Jahren Studium muss wohl jeder ernüchtert feststellen, dass nicht immer publiziert wird, weil es neue Erkenntnis, weil es Wichtiges zu sagen gibt. Im Kampf um Reputation und knapp bemessene Drittmittel werden Texte sprachlich aufgebläht, ungesicherte Ergebnisse werden als Sensationen verkauft, Statistiken frisiert. Nicht immer funktioniert das langfristig, aber offenbar oft genug.

Die Prinzipien der Marktwirtschaft breiten sich immer stärker bis in die Gesellschaft aus. Der Selektionsdruck auf dem Arbeitsmarkt erfordert immer ausgefeiltere, psychologisch abgestützte und manchmal auch manipulative Präsentationstechniken. Man fordert von uns, Vertreter unserer selbst zu sein. Wir haben etwas Wertvolles zum bestmöglichen Preis zu verkaufen - uns selbst! Die Ware muss dafür zurechtgeredet werden. Worte allein helfen jedoch nicht, man muss auch Profil zeigen. Und so bastelt die Generation Bachelor fleißig an ihrer Außenwirkung: man übernimmt Ehrenämter, um sie als soziales Engagement auf dem Lebenslauf verbuchen zu können, Zusatzkurse werden belegt, hilfreiche Bekanntschaften geschlossen, Auslandsaufenthalte geplant… Wir sind aber nicht nur die Ware im Schaufenster. Unser Image ist auch das Kapital, mit dem wir um heißbegehrte Arbeitsplätze kämpfen. Wer am meisten zahlt, gewinnt. Darum wird der schöne Schein aufgebaut und poliert. Bloß keine dunklen Flecken zulassen. Nur nicht zugeben, dass man weniger zu bieten hat, als man vorgibt.

Ja, wollen die Menschen denn nicht betrogen werden? Das ganze System ist doch darauf angelegt, die geschicktesten Blender und Hochstapler, die glattesten Karrieristen zu belohnen. Wer bei diesem Theater nicht mitspielen will, muss nach der Vorstellung die Bühne schrubben. Die Hauptrollen erhalten eben nur die besten Schauspieler.  

Haben wir uns tatsächlich schon mit solchen Sprüchen abgefunden? Steckt nicht in uns noch ein kleiner Funke Sehnsucht nach Ehrlichkeit und Authentizität? Im privaten Bereich, unter guten Freunden, da können wir doch so sein, wie wir wirklich sind. Wirklich? Bei näherem Hinsehen würde sich bald herausstellen, dass viele sogar in ihrer Freizeit nicht aus der Vertreterrolle heraustreten können. Selbst die Beziehungen bleiben von der Sorge um die Wirkung nicht verschont. Was denken die anderen über mich? Wie wirkt es auf sie, wenn ich mich so oder so verhalte? Was sollte ich tun und sagen, damit ich gefalle? Ohne dass wir es merken, treten wir täglich als Schauspieler auf, um unsere Ziele zu erreichen. Wir wollen Macht über andere gewinnen oder suchen Aufmerksamkeit von denen, die wir zu beeindrucken suchen. Wir wollen dazugehören und müssen so tun, als wären wir genau wie die anderen. Wir fürchten uns davor, dass die anderen sich von uns abwenden, wenn sie herausfinden, wie wir wirklich sind – schwermütig, voller abgründiger Gedanken und Wünsche, gefühlskalt, leer oder einfach nur langweilig.

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