Kein Abgrund ist so tief, dass Gottes Liebe nicht hineinreicht.

Die Terrorherrschaft der Nationalsozialisten warf Corrie ten Boom aus ihrem beschaulichen bürgerlichen Leben heraus. Obwohl ihr selbst die Schrecken des Konzentrationslagers nicht erspart blieben, hielt sie stets an Gott fest und erfuhr auch in größter Bedrängnis seine helfende Kraft.

tenboom-wideCorrie ten Boom, (c) WoGi House, Haarlem
„Können Sie mir vergeben?“ Der Mann stand mit ausgestreckter Hand vor Corrie. Hatte er tatsächlich diese Worte gesagt, diese  unerhörte, unmögliche Frage gestellt? Er war unscheinbar mit  Hut und Mantel bekleidet. Doch vor ihrem inneren Auge sah sie ihn nur in  blauer Uniform und der Mütze mit einen Totenschädel über gekreuzten Knochen. Sie erblickte wieder die Peitsche, die in seinem Gürtel steckte; und fühlte die abgrundtiefe Scham nackt an ihm vorbeigehen zu müssen. Er war einer der Grausamsten ge-wesen. Er erkannte sie nicht.

Sie hatte gerade eine Predigt über Vergebung in einer Kirche in München gehalten. Es war 1947, nur zwei Jahre nach Kriegsende. Die Stadt war wie große Teile Deutschlands stark zerstört. Aber nicht nur die Gebäude waren häufig nur noch Ruinen. Auch die Menschen selbst waren verletzt und trugen tiefe Narben nach sechs Jahren Krieg, dessen Ende die Weltanschauung vieler Menschen zerrüttet hatte. Diesen Menschen wollte Corrie ten Boom die Botschaft von Gottes Vergebung bringen. Dabei hatte sie selbst unter den Deutschen gelitten.

tenboom2Corrie ten Boom beim Eingang des Verstecks in Amsterdam,    (c) WoGi House, HaarlemCorrie ten Boom war Niederländerin, die 1892 in Amsterdam geboren wurde und in einer tief gläubigen Familie in Haarlem aufwuchs. Die Tür ihres Hauses war für jedermann offen. Die Familie war mit vielen Juden befreundet. Doch dann kam der Krieg. Deutsche Soldaten besetzten die Niederlande und begannen die Juden in Konzentrationslager zu deportieren. Die Uhrwerkstatt der ten Booms wurde zur Zuflucht für Juden und Widerstandskämpfer. Sie harrten dort in einem geheimen Versteck hinter Corries Zimmerwand aus, bis sie in andere Verstecke gebracht werden konnten. Auf diese Weise konnte Corrie ten Boom, ihre Familie und ein Ring aus Helfern, die sogenannte „Beje“–Gruppe, die Leben von über 800 Menschen retten.

Doch 1944 wurden sie verraten. Ein Mann erschlich sich ihr Vertrauen mit der Behauptung, er wolle seine Frau befreien, die verhaftet worden war. In Wahrheit war er ein Spitzel. Corrie und viele weitere Familienmitglieder wurden verhaftet. Mit ihrer Schwester Betsie kam sie in das KZ Ravensbrück. Dort im Lager starb Betsie, Corrie überlebte wie durch ein Wunder. Vier Familienmitglieder, darunter ihr Vater und ein Neffe, überlebten die Gefangenschaft nicht. All diese Erinnerungen kamen mit dem Anblick des Mannes auf einen Schlag zurück. Ihr gefror das Blut in den Adern, wie sie später erzählte.

Während ihr diese Gedanken durch den Kopf schossen, stand er wartend vor ihr. „Ich bin Christ geworden. Ich weiß, dass Gott mir alle Grausamkeiten, die ich dort getan habe, vergeben hat. Aber ich möchte es auch aus ihrem Mund hören, Fräulein. “ Aber konnte sie, sein einstiges Opfer, ihm ebenfalls vergeben? Ihr wurde bewusst, dass sie sich nicht überwinden konnte. Ihr Herz war „kalt“, so ihre eigenen Worte. Mit ihren eigenen Worten ausgedrückt: Ihr Herz war „kalt“.

Corrie hatte in ihrer Arbeit mit Opfern des Naziregimes in ihrem Heim in Bloemendaal, einem ehemaligen KZ, häufig erlebt, dass nur die wirklich heil im Geist werden konnten, die mit Gottes Hilfe ihren Peinigern vergaben. In diesen Häusern konnten alle Opfer der Nazis, auch Deutsche, Heilung finden. Oft hatte sie ihnen von der heilenden Kraft der Vergebung erzählt. Auf der ganzen Welt hatte sie Predigten darüber gehalten, wie wichtig die Vergebung und die Liebe Gottes waren. Und nun kämpfte sie selbst darum, die ausgestreckte Hand des Mannes zu ergreifen. Sie betete:

„Jesus, hilf mir. Ich kann meine Hand heben. Das wenigstens kann ich tun. Das Gefühl musst du dazutun.“ Als sie mechanisch die dargebotene Hand schüttelte, durchströmte plötzlich eine heilende Wärme ihr ganzes Sein. Weinend sagte sie: „Ich vergebe dir, Bruder. Von ganzem Herzen.“ Sie selbst hatte die Kraft nicht. Aber Gott hatte diese Kraft für sie. Noch nie hatte sie seine Liebe gespürt wie in diesem Moment, berichtet sie in ihrem Buch „Mit Gott durch dick und dünn“. Und sie erkannte wieder, wie wahr die Worte ihrer Schwester waren: „Kein Abgrund ist so tief, dass Gottes Liebe nicht hineinreicht.“

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