Feindkontakt

Wir können uns selbst gegenübertreten und erfahren uns – als konfliktreich. „Sonett auf sich selbst“ hat Rudolf Borchardt sein 1902 verfasstes Gedicht überschrieben. Dahinter verbirgt sich jedoch keine egomane Lobeshymne, sondern die Erfahrung, dass man nicht man selbst sein will und die eigene Welt als Schein erfährt. Dennoch bleibt sie – die Sehnsucht nach Sein und Wahrhaftigkeit. Eine subjektive Deutung.


Völlig verschreckt war er aus seinem Bett in die Höhe geschnellt, Gedankenfetzen des gerade Durchlebten hingen ihm nach, doch sie waren nicht wahr gewesen, nicht seine Geschichte – nur ein Traum.

Weil sein Mund trocken war, versucht er im dämmrigen Grau des Zimmers ein Glas auf dem Nachttisch zu greifen. Unerwartet fällt sein Blick in den ovalen Spiegel über der Kommode. Er erschrickt – wer ist ... ? Das kann doch nicht ... ! Seit Jahren herrscht Funkstille zwischen ihnen, nur unscharf kommt die Erinnerung wieder. Es fängt an, in ihm zu brodeln. Wie Brüder waren sie gewesen, doch dann die Kehrtwende: Missverständnisse, Zerwürfnisse, Zeichen der Versöhnung, schließlich Verzweiflung, Verdrängung, Vergessen. War er im Albtraum nun zurückgekehrt?

Spiegel© steff ne – Photocase.comEr sieht genauer hin – das Gesicht gleicht einer Fratze. Die Wangenknochen sind deutlich hervorgetreten, die Lippe schwulstig und spröde, die Haut entzündet und schuppig, der Kiefer macht langsame Bewegungen, sein Mund knirscht, als würde er Glas
kauen.

Er hält inne: „Bin ich vielleicht gar nicht wach, sondern träume noch immer? Wie kann ich zurückkommen, mich aus dem Traum befreien?“ Angst beschleicht ihn. Sein Blick wendet sich starr dem Spiegel zu: „Und wenn er es doch nicht ist? Wenn ich es bin?“ Er kann das Gesicht nicht recht entziffern. Es scheint Anteile an beiden zu haben. Er sucht nach etwas, das sie unterscheidet, aber seine Gedanken arbeiten langsam – als wollten sie ihm einen Streich spielen. Sie waren einander ähnlich gewesen, daran erinnert er sich noch. Trotzdem wäre nie jemand auf die Idee gekommen, sie zu verwechseln.

Plötzlich zuckt durch die Langsamkeit des Gedankensumpfes eine neue Frage: „Wie sah ich doch gleich noch einmal aus?“ Doch das eigene Spiegelbild will ihm einfach nicht vor Augen treten, die Gedanken versagen ihm den Dienst.

Sie scheinen sich verselbstständigt zu haben, bewegen sich unaufhaltsam in eine andere Richtung. „Was, wenn es gar nicht darum geht, ob ich es bin? Sondern darum, wie ich sein will? Wer bin ich eigentlich? Bin ich zufrieden damit?“ Unangenehme Fragen, denen er sich nicht entziehen kann, ist er doch nicht Herr des Traums.

Seine Hand greift ins Leere, kann das Glas nicht finden. Vielleicht geht es ja nicht nur ihm so, vielleicht trägt auch sein Feind die Frage in sich und brütet darüber, ohne Antwort zu finden.

Den Blick im Spiegel will er nicht länger erwidern. Er ist es nicht gewohnt. Nur beim Rasieren betrachtet er sein Gesicht, nimmt die vorsichtigen Fältchen um die Augen wahr, seine grauen Augen. Aber alles will sich nicht sortieren, verschwimmt.

Er sinkt in sich zusammen, schließt sehnsüchtig die Augen, in der Hoffnung auf gute Träume. Vor dem Dunkel der Augen, einem Vorhang im Kinosaal gleich, leuchtet plötzlich das Meer auf. Brausend und mächtig donnern die Wellen auf ihn zu. Himmel und Wasser sind zu einem Fleck verschmolzen, kein Horizont lässt sich aus-machen.

Strudel und Untiefen ziehen ihn immer weiter hinaus auf die offene See, die sich noch nicht entschieden zu haben scheint, ob sie Kunstwerk oder Ungeheuer sein will. Der Himmel will nicht aufhören zu toben, die aus den Fugen geratene Welt kennt kein Entkommen. Das Bild des Grauens hat seine Sehnsucht ins Leere laufen lassen. Er will sich dem grauen Chaos gerade entziehen, als ein Schiff hinter einer Woge auftaucht und seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Als es näherkommt, entdeckt er Menschen, die er kennt. Aus Erzählungen, Filmen, Büchern. Er dachte, sie seien Figuren der Phantasie, aber sie sind realer als sein Spiegelbild. Einige lächeln ihn an, als sie an ihm vorüberziehen, ihre Augen sind klar und furchtlos und fröhlich, viele sind in Gespräche vertieft, andere singen Lieder von ewiger Geborgenheit und heiligem Herzensfrieden, vollendeter Schönheit und schützenden Händen. Sie alle wirken unbekümmert und doch nicht naiv, als würden sie den Sturm, der um sie tobt, bemerken, aber nicht fürchten. Und plötzlich merkt er, wie in ihm eine Sehnsucht aufsteigt, glühend und klar übermannt sie ihn. Er möchte auch auf dieses Schiff, denn es verwandelt das Meer und die Wellen – nicht mehr bedrohlich, sondern abenteuerlich, wild und wundervoll erscheint ihm jetzt das graue Wasser und die weiße Gischt.

Ist es dies, was er sucht: den heiligen Herzensfrieden der Helden, die auf das Meer einen anderen Blick haben und in der Gewissheit segeln, dass nicht der Wind das Schiff in der Hand hat, sondern der, von dem sie singen?

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