Weh' dem, der keine Heimat hat

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) hat so konsequent wie kaum ein anderer Denker der neueren Geistesgeschichte die Folgen der Beseitigung Gottes reflektiert. Und kaum jemand hat so schmerzlich unter diesem Verlust gelitten wie er. Das Gedicht „Der Freigeist“ (untenstehend) kann eine solche Zerissenheit veranschaulichen. Überlegungen zu einem poetischen Aufschrei.
Auf einem weiten Feld steht ein einsamer Wanderer und blickt in den kalten, blauen Winterhimmel. Ein Schwarm Krähen zieht krächzend Richtung Stadt. Sein Blick folgt ihnen. Doch er ist kein Heimkehrender, der glücklich ist, noch vor dem nächsten Schneefall sein Ziel erreicht zu haben. Die Stadt liegt hinter ihm, er blickt zurück. Vor kurzem hat er seine Heimat fluchtartig verlassen – einsam und verzweifelt.
Er ist kein

Er ist zu ewiger Wanderschaft verdammt. Er weiß: Jetzt gibt es keine schützenden Grenzen mehr, keinen Maßstab. Er ist haltlos geworden, ist im freien Fall begriffen. Hier steht er nun an der Grenze, die er gleich überschreiten wird, hinter der es kein Zurück mehr gibt. Die Krähen fliegen im Schwarm zur Stadt, er aber wird als einsamer Vogel fortziehen, in noch kältere Gegenden. Und er wird kein fröhliches Lied trällern, sondern das Lied eines Wüstenvogels. Der Verlust der Heimat, dem er sehenden Auges entgegen schreitet, schmerzt tief. Das Herz blutet ihm. Doch will er dort draußen bestehen, muss er diesen Schmerz überspielen durch Zynismus und Kalltherzigkeit. Niemand soll sehen, welche Abgründe sich in ihm auftun, welche unheilbaren Wunden in ihm aufgerissen sind. Hat er anfangs noch wehmütig geseufzt: „Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat“, so wird schließlich daraus ein ganz und gar hoffnungsloses und drohendes „Weh dem…“.
Wer ist dieser Wanderer? Und wovor flieht er? Vielleicht finden wir uns wieder in diesem Bild, erinnern uns an Wendepunkte im Leben, bei denen wir unsere Wurzeln abschnitten und Vertrautes hinter uns ließen, füllen das Motiv der verlorenen Heimat mit eigenen Erfahrungen. Aber man ahnt, dass hier mehr mitklingt – eine tiefe, existentielle Erfahrung, die bis ins Mark unserer Seele dringt.
Der erschrockene Mensch hat etwas sehr Wesentliches verloren. Um es mit Nietzsche zu sagen: Er hat Gott getötet. Er hat den Lebensgrund beseitigt. Doch die Freiheit ohne den Schöpfer wird zu einer unermesslichen Leere, zu einer ewigen Rast– und Heimatlosigkeit.
Der Dichterphilosoph lässt einige Jahre nach Niederschrift des hier besprochenen Gedichtes in einer Parabel einen „tollen Menschen“ schreien:
„Wohin ist Gott? [...] Wir haben ihn getötet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?“
Der Wanderer hält an der Grenze zur Hoffnungslosigkeit inne. Aber er kann nicht mehr zurück, es treibt ihn in sein Unglück hinaus. Hat er sich aber möglicherweise getäuscht? Vielleicht kann er doch noch vor Wintereinbruch umkehren?